Der Minoritenplatz. Etwa zehn Schritte vom seitlichen Eingang zur Minoritenkirche stehen sie: zwei Menschen. Einer davon ist ein kleiner, recht blässlich aussehender junger Mann, der überaus nervös wirkt. Seine runden Brillengläser verstärken das junge Aussehen. Ihm gegenüber ein Soldat in hellblauer Hose, dunkelblauem Jackett und schwarzem leichten Mantel. Seine linke Hand ist auf den matt schimmernden Säbelknauf gestützt, die rechte (ist) am Gurt gehalten. Die weißen Handschuhe heben sich deutlich hervor. Über das Gespräch selbst können wir nicht viel sagen, außer vielleicht, dass es sehr leise und beschaulich betrieben wird. Wir wollen nicht stören, deshalb warten wir noch zu, bis wir näher gehen. Die Verabschiedung ist höflich und freundlich. Jeder schlägt wieder seinen Weg ein. Jetzt, wo dieser unauffällig wirkende Soldat – mit Namen Johann Gottfried von Märwald – durch die schmale Gasse in Richtung des neuen Burgtheaters geht, folgen wir ihm. Er ist ein subalterner Offizier! An seinem roten Kragenspiegel prangt ein kleiner Stern und zeichnet ihn als Leutnant eines Wiener k.u.k. Infanterieregiments aus. Etwa 25 Jahre jung. Doch unsere Beobachtung wird jäh gestört.

Das Kalenderblatt zeigt uns Freitag, den 24.März 1899.
Die Turmuhr der Minoritenkirche schlägt gerade die volle Stunde von 7 Uhr abends an.

Und während der erste Glockenschlag in den zweiten übergeht, kommt es zu einer folgenschweren Kollision zwischen ihm und einer kecken Billardkugel, die unvernünftigerweise seinen geradlinigen Weg von rechts kreuzt. Wollen wir wissen, woher dieses kleine Elfenbeinrund kommt, dann müssen wir die Zeit um einige Schritte zurückdrehen und uns nach rechts wenden, die Bankgasse hinab, dort, wo sie in die Herrengasse einmündet. An dieser Kreuzung kommt ein älterer Franzose mit Spazierstock des Weges, der mit seinen Gedanken gänzlich bei einer Billardpartie ist, die er in einem nahe gelegenen, sehr bekannten Café gewonnen hat. Gegen sich. Eine Hand gegen zwei. Grußlos verabschiedete er sich, ging hinaus und auf die Gasse, wo er seine Abreise beschloss. So, wie er es schon 28 Jahre zuvor, im kleinen französischen Städtchen Lavilledieu, machte. Doch diesmal, warum wissen wir nicht, genehmigte er sich einen der drei glänzenden Billardbälle. Unerlaubterweise. Der andere, der gerade um die Ecke biegt, ist ein eigenwillig aussehender, ungepflegter Herr von Mitte dreißig, der in drei, vier Stunden einen Zug nehmen möchte, der ihn nach Nürnberg bringen soll. Dort wird er am nächsten Morgen eine Produktvorführung halten. Ein Vertreter? Ein Reisender? Weder noch. Ein kreativer Erfinder, der ein neues, besonderes, ja sehr durchdachtes Ablagesystem mitentwickelt, das großen Firmen, Banken und Versicherungen erlauben wird, noch mehr Ordnung und Effizienz an den Tag zu legen. Revolutionär? Vielleicht.

Der Zusammenprall der zurückblickenden Vergangenheit mit der vorausblickenden Zukunft ließ diese gegenwärtige Billardkugel zu Boden fallen, die Bankgasse hinunterrollen und sie auf den Offizier treffen. Oder den Offizier auf sie. So genau weiß man das bekanntlich nie! [...] [Prolog]

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Minoritenplatz
Taborstraße 11
Albrechtsplatz
Stephansplatz
Café Central
Neustift

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Auszug aus "Eine kurze Einführung in das Universum des Leutnant Johann Gottfried von Märwald"